Scheiter- und Erfolgserleben

bei Hoch- und Höchstbegabten


Das Paradox des Erfolgs

Ein hochbegabtes Kind kommt mit einer Eins nach Hause. Die Eltern freuen sich. Die Lehrkraft lobt. Doch das Kind selbst sagt: „Das war nichts Besonderes. Das konnte ich doch schon vorher."


Was von außen wie Erfolg aussieht, fühlt sich für das Kind wie Leerlauf an. Und genau hier liegt eines der größten Missverständnisse im Umgang mit Hoch- und Höchstbegabten: Erfolg wird nicht in Noten gemessen, sondern in Erfahrungen.


Was ist echtes Erfolgserleben?

Erfolgserleben entsteht, wenn:

  • Eine Herausforderung gemeistert wurde, die Anstrengung erforderte
  • Man über sich hinausgewachsen ist
  • Man etwas Neues gelernt hat
  • Man eine Grenze überwunden hat
  • Man das Gefühl hat: „Das habe ich geschafft!"
  • NICHT IM VERGLEICH MIT ANDEREN


Für hochbegabte Kinder bedeutet das: Erfolg ist nicht die Eins in der Mathearbeit, die sie ohne Lernen geschrieben haben. Erfolg ist das komplexe Problem, das sie drei Tage lang gedanklich durchgespielt haben, bis endlich die Lösung da war. Erfolg ist das Buch, das sie nicht verstanden haben und dann doch geknackt haben. Erfolg ist die Diskussion, die sie zum Nachdenken gebracht hat.


Erfolg ist die Erfahrung von Wachstum, nicht von Bestätigung.


Das unterschätzte Scheitererleben

Hier liegt die Tragik: Hochbegabte Kinder bekommen oft hervorragende Noten – und erleben dabei permanent Scheitern.


Wie kann das sein?

Weil Scheitererleben nicht bedeutet, eine schlechte Note zu bekommen. Scheitererleben entsteht, wenn:


  1. Keine echte Herausforderung geboten wird Das Kind bearbeitet Aufgaben, die es bereits kann. Es muss sich nicht anstrengen, nicht denken, nicht wachsen. Das Gehirn läuft im Leerlauf. Das fühlt sich nicht nach Erfolg an – es fühlt sich nach Zeitverschwendung an.
  2. Keine Lernfortschritte erlebt werden Tag für Tag dasselbe Niveau. Keine neuen Impulse. Keine Erkenntnisse. Keine Entwicklung. Das Bedürfnis nach kognitivem Wachstum wird nicht gestillt. Das ist für ein hochbegabtes Gehirn wie Hunger ohne Nahrung.
  3. Die Fähigkeiten nicht ausgeschöpft werden Stellen Sie sich vor, Sie sind Marathonläufer und dürfen nur 100 Meter gehen. Immer wieder. Jeden Tag. Sie könnten so viel mehr – aber Sie dürfen nicht. Das ist frustrierend. Das ist Scheitern.
  4. Sinnhaftigkeit fehlt Hochbegabte brauchen Kohärenz. Sie wollen verstehen, warum sie etwas tun. Wenn Aufgaben sinnlos erscheinen – und Wiederholungen von längst Verstandenem sind definitiv sinnlos – entsteht ein Gefühl von Leere statt Erfüllung.
  5. Keine Flow-Erlebnisse möglich sind Flow entsteht, wenn Anforderung und Fähigkeit perfekt zusammenpassen. Wenn die Anforderung zu niedrig ist, gibt es keinen Flow. Nur Langeweile. Und Langeweile fühlt sich an wie Scheitern.


Die fatale Gleichung

Gute Noten ≠ Erfolgserleben Keine schlechten Noten ≠ Kein Scheitererleben


Ein hochbegabtes Kind kann:

  • Einen Notendurchschnitt von 1,3 haben
  • Von außen erfolgreich wirken
  • Gelobt und geschätzt werden


Und trotzdem innerlich erleben:

  • Ich werde nicht gefordert
  • Ich lerne nichts
  • Ich komme nicht voran
  • Ich verschwende meine Zeit
  • Ich scheitere jeden Tag


Die Folgen des permanenten Scheitererlebens


Wenn hochbegabte Kinder über längere Zeit kein echtes Erfolgserleben haben, entstehen:


Motivationsverlust „Warum soll ich mich anstrengen? Es bringt ja eh nichts Neues."


Verweigerung „Ich mache das nicht. Das ist sinnlos."


Underachievement Das Kind erbringt nur noch Minimalleistungen, weil es innerlich aufgegeben hat.


Selbstzweifel „Alle sagen, ich bin schlau. Aber ich fühle mich nicht schlau. Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir."


Verlust der Leistungsbereitschaft Das Kind verlernt, sich anzustrengen, weil es nie nötig war. Wenn dann später doch Anstrengung nötig wird, fehlt die Übung.


Psychosomatische Beschwerden Bauchschmerzen vor der Schule. Kopfschmerzen. Schlafprobleme. Der Körper drückt aus, was die Worte nicht können.


Was hochbegabte Kinder wirklich brauchen


  1. Herausforderungen auf ihrem Niveau
    Nicht mehr vom Gleichen, sondern etwas Anspruchsvolleres. Aufgaben, bei denen sie denken müssen. Probleme, die nicht auf den ersten Blick lösbar sind. Projekte, die sie fordern.
  2. Die Erlaubnis zu scheitern
    Echtes Scheitern – nicht das stille Scheitererleben bei guten Noten, sondern das produktive Scheitern an einer schwierigen Aufgabe. Wo man es nicht sofort kann. Wo man nachdenken muss. Wo man Fehler macht und daraus lernt.
  3. Aufgaben über dem aktuellen Leistungsniveau
    Ja, richtig gelesen: Über dem Niveau. Denn nur dort beginnt echtes Lernen. Nur dort entsteht das Gefühl: „Ich habe mich angestrengt und es geschafft!"
  4. Komplexität statt Quantität
    Nicht 20 einfache Aufgaben, sondern eine komplexe. Nicht mehr Wiederholungen, sondern tiefere Auseinandersetzung. Nicht schneller durch den Stoff, sondern tiefer hinein.
  5. Freiräume für eigenständiges Denken
    Projekte, die sie selbst gestalten können. Fragen, die sie selbst entwickeln dürfen. Lösungswege, die sie selbst finden müssen. Autonomie statt Anleitung.
  6. Feedback auf Prozessebene
    Nicht: „Das hast du toll gemacht!" (Das wissen sie selbst.) Sondern: „Ich sehe, wie du an dieser Stelle anders gedacht hast als üblich. Erzähl mir mehr darüber."


Der Unterschied zwischen Hoch- und Höchstbegabten

Bei Höchstbegabten (IQ 145+) ist das Problem noch ausgeprägter:

  • Die Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und Anforderungen ist noch größer
  • Das Tempo des Denkens ist noch schneller
  • Die Komplexität des Verstehens noch höher
  • Der Bedarf nach kognitiver Nahrung noch intensiver


Während ein hochbegabtes Kind vielleicht in einzelnen Fächern unterfordert ist, ist ein höchstbegabtes Kind oft systemisch unterfordert. Das reguläre Schulsystem kann ihre Bedürfnisse kaum abdecken.


Für Eltern und Lehrkräfte: Die wichtigsten Erkenntnisse


  1. Gute Noten sind kein Garant für Wohlbefinden
    Fragen Sie nicht nur: „Welche Note hast du?" Fragen Sie: „Hast du heute etwas Neues gelernt?"
  2. Langeweile ist keine Faulheit
    Wenn ein hochbegabtes Kind verweigert, ist das oft ein Zeichen von Unterforderung, nicht von mangelnder Motivation.
  3. Fehler sind Geschenke
    Wenn Ihr Kind endlich mal etwas nicht sofort kann – feiern Sie das! Denn hier beginnt echtes Lernen.
  4. Anstrengung muss erlernbar sein
    Kinder, die nie lernen mussten, sich anzustrengen, können es später nicht. Geben Sie ihnen Aufgaben, die sie fordern.
  5. Erfolg braucht Widerstand
    Ohne Widerstand kein
    Wachstum. Ohne Wachstum kein Erfolgserleben. Ohne Erfolgserleben keine Selbstwirksamkeit.


Fazit: Erfolg ist, was sich wie Erfolg anfühlt


Ein hochbegabtes Kind, das endlich eine Aufgabe bekommt, bei der es denken muss, sich anstrengt und am Ende sagt „Das war richtig gut!" – das erlebt Erfolg. Auch wenn die Note vielleicht nicht perfekt ist.


Begabungswirksamkeit braucht Begabungsgerechtigkeit.


Und Begabungsgerechtigkeit bedeutet: Jedes Kind muss die Möglichkeit haben, an seinen Grenzen zu wachsen. Nicht darunter. Nicht darüber. Genau dort, wo Herausforderung auf Können trifft.


Dort entsteht Erfolg. Dort entsteht Selbstwirksamkeit. Dort entsteht Freude am Lernen.


Und genau das sollte unser Ziel sein.