Wenn kindliche Intensität auf Ablehnung trifft
Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und pädagogische Handlungsalternativen
Wenn Lebendigkeit zum Problem wird
Szene 1: Emma (7) entdeckt im Garten einen Regenwurm. Völlig außer sich vor Begeisterung rennt sie ins Haus: "MAMA! MAMA! GUCK MAL! DER IST SO COOL!" Die Mutter, im Gespräch mit einer Nachbarin: "Emma! Nicht so laut! Und man unterbricht nicht! Das ist unhöflich!"
Szene 2: Ben (5) begegnet im Supermarkt einer älteren Dame. Spontan umarmt er sie: "Du bist so nett!" Der Vater, sichtlich peinlich berührt: "Ben! Lass das! Man fasst keine fremden Menschen an!"
Szene 3: Lina (9) hat in der Schule etwas Spannendes gelernt und platzt im Unterricht herein: "Wissen Sie schon, dass..." Die Lehrerin unterbricht scharf: "Lina! Schon wieder! Du musst dich melden und warten. Das ist jetzt das dritte Mal heute!"
Was haben diese Situationen gemeinsam? Ein Kind zeigt sich in seiner natürlichen Intensität – und wird dafür zurückgewiesen.

Intensität als Temperamentsmerkmal
Nach den Forschungen von Thomas und Chess (1977) zur kindlichen Temperamentsentwicklung ist die Reaktionsintensität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Manche Kinder erleben und äußern Emotionen einfach intensiver als andere – das ist weder gut noch schlecht, sondern Teil ihrer individuellen Konstitution.
Daniel Stern (1985) beschreibt in seiner Theorie der Affektabstimmung, wie entscheidend es für Kinder ist, dass ihre emotionalen Ausdrücke von Bezugspersonen gespiegelt und validiert werden. Wenn ein Kind begeistert "GUCK MAL!" ruft und die Bezugsperson mit gleicher Energie antwortet "WOW, zeig mal!", erfährt das Kind: "Meine Gefühle sind richtig und werden gesehen."
Was passiert bei wiederholter Ablehnung?
Wenn kindliche Intensität systematisch abgelehnt wird, entstehen tiefgreifende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung:
1. Emotionale Selbstentfremdung
Nach der PSI-Theorie von Julius Kuhl ist der Zugang zum Extensionsgedächtnis (dem Selbstsystem) abhängig von positiven Emotionen und Selbstakzeptanz. Wenn Kinder lernen, dass ihre spontanen Gefühlsausdrücke "falsch" sind, entwickeln sie eine chronische Selbsthemmung. Das Objekterkennungssystem (kritisch, fehlerorientiert) wird dominant.
Konkrete Folge: Das Kind lernt, seine Emotionen permanent zu kontrollieren und zu bewerten, statt sie zu fühlen und zu regulieren. Es entsteht eine innere Stimme: "Ich bin zu laut", "Ich bin zu viel", "Ich nerve".
2. Entwicklung eines falschen Selbst
Der Psychoanalytiker Donald Winnicott (1965) beschreibt das Konzept des "falschen Selbst": Wenn Kinder wiederholt die Erfahrung machen, dass ihr authentisches Sein nicht akzeptiert wird, entwickeln sie eine angepasste Fassade. Sie lernen, "brav" zu sein statt echt.
Langfristige Folgen:
- Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zu erkennen
- Tendenz zum People-Pleasing
- Gefühl innerer Leere trotz äußerer Anpassung
- Identitätsdiffusion im Jugendalter
3. Beziehungsfähigkeit und soziales Lernen
Bindungsforschung (Bowlby, Ainsworth): Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie in ihrer Gesamtheit – inklusive ihrer intensiven Momente – geliebt werden. Wenn Zuwendung an Bedingungen geknüpft ist ("Ich mag dich, wenn du leise bist"), entsteht unsichere Bindung.
Paradoxes Ergebnis:
- Das Kind soll soziale Regeln lernen, aber durch Ablehnung lernt es vor allem: "Meine Spontaneität ist gefährlich für Beziehungen"
- Statt soziale Kompetenz zu entwickeln, entsteht soziale Angst
- Statt Empathie zu lernen, lernt es Scham
4. Leistungsmotivation und Selbstwirksamkeit
Nach Heckhausen und Rheinberg entwickelt sich Leistungsmotivation durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Wenn Kinder in ihrer natürlichen Explorationsfreude ("GUCK MAL, was ich entdeckt habe!") gebremst werden, erleben sie:
- Misserfolgsorientierung statt Erfolgsorientierung
- Vermeidungsverhalten statt Annäherungsverhalten
- Externe Kontrolle statt internale Kontrollüberzeugung
Das Kind lernt: "Meine Impulse führen zu Problemen" statt "Meine Neugier führt zu spannenden Entdeckungen"
Neurobiologische Perspektive
Die Entwicklung der Selbstregulation
Gerald Hüther und andere Neurobiologen betonen: Selbstregulation entwickelt sich nicht durch Unterdrückung, sondern durch Co-Regulation. Das kindliche Gehirn lernt emotionale Regulation durch die Erfahrung, mit seinen intensiven Gefühlen begleitet und nicht allein gelassen zu werden.
Wenn Intensität abgelehnt wird:
- Das limbische System (Emotionszentrum) bleibt aktiviert
- Der präfrontale Kortex (Steuerung) kann sich nicht entwicklungsgemäß verbinden
- Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet
- Langfristig: erhöhte Stressanfälligkeit, Schwierigkeiten in der Impulskontrolle
Das Paradox: Durch Ablehnung entsteht genau das Verhalten, das verhindert werden soll – mangelnde Selbstregulation.
Unterschied: Intensität ablehnen vs. Verhalten lenken
Die destruktive Botschaft (Ablehnung der Intensität):
- "Du bist zu laut!" → Du bist falsch
- "Nicht schon wieder!" → Deine Begeisterung nervt
- "Das macht man nicht!" → Deine Impulse sind schlecht
Die konstruktive Botschaft (Verhalten lenken, Intensität würdigen):
Beispiel Regenwurm:
"WOW, du hast einen Regenwurm gefunden! Du bist ja total begeistert! [Intensität spiegeln] Komm, wir flüstern jetzt, weil die Nachbarin und ich uns unterhalten. Gleich zeigst du ihn mir ganz genau!" [Verhalten lenken]
Beispiel Umarmung:
"Du magst die Dame! [Gefühl validieren] Nicht jeder möchte umarmt werden. Wir können winken oder 'Hallo' sagen. [Alternative anbieten] Möchtest du mich umarmen? Ich freu mich über deine Umarmungen!" [Bedürfnis befriedigen]
Beispiel Unterricht:
"Lina, ich sehe, du brennst darauf, etwas zu erzählen! [Intensität anerkennen] Das ist spannend! Halte den Gedanken fest und gleich nach diesem Satz bist du dran. [Struktur geben + zeitnah einbinden]"
Langfristige Folgen im Jugendalter und Erwachsenenalter
Klinische Beobachtungen
Aus der Arbeit mit Erwachsenen wissen wir (Linehan, Schema-Therapie, Emotionsfokussierte Therapie):
Menschen, deren Intensität als Kinder abgelehnt wurde, zeigen häufig:
- Emotionale Dysregulation Schwierigkeiten, Emotionen zu identifizieren und zu benennen (Alexithymie) Überwältigende Gefühlsausbrüche oder völlige emotionale Taubheit Pendeln zwischen Extremen
- Selbstwertproblematik Tiefsitzende Überzeugung "Ich bin zu viel" oder "Ich bin falsch" Scham als Grundemotion Chronische Selbstkritik
- Beziehungsprobleme Schwierigkeiten mit Nähe ("Wenn sie mich wirklich kennen, bin ich zu viel") Anpassungsverhalten und Verlust der Authentizität Oder: Rebellion und demonstrative Intensität als Gegenreaktion
- Kreativitätsverlust Begeisterung und spontane Kreativität sind gehemmt "Innerer Kritiker" ist übermächtig Schwierigkeiten, Flow-Erlebnisse zuzulassen
Pädagogische Handlungsalternativen
Das Konzept der "Emotionscoaching" (Gottman), John Gottman unterscheidet verschiedene elterliche Reaktionsstile:
Ineffektiv:
- Ablehnung: "Stell dich nicht so an"
- Bagatellisierung: "Das ist doch nicht so schlimm"
- Laissez-faire: Keine Grenzen, keine Orientierung
Effektiv - Emotionscoaching:
- Emotionale Momente bemerken (auch die intensiven!)
- Als Gelegenheit zur Nähe und Lehre nutzen
- Gefühle validieren und benennen helfen
- Grenzen für Verhalten setzen, nicht für Gefühle
- Problemlösung gemeinsam entwickeln
Praktische Strategien für intensive Kinder für Eltern und Lehrkräfte:
1. Intensität als Stärke umdeuten
- "Du hast so viel Energie und Begeisterung – das ist eine tolle Kraft!"
- "Menschen, die intensiv fühlen, können auch intensiv mitfühlen und andere begeistern"
2. Kanäle für Intensität schaffen
- Bewegungsangebote (Sport, Tanzen, Toben)
- Kreative Ausdrucksformen (Theater, Kunst, Musik)
- "Intensitäts-Zeiten" einplanen: "Jetzt darfst du mir ALLES erzählen!"
3. Vorhersehbare Struktur bieten
- "Gleich gehen wir zur Oma. Dort gilt: leise Stimme. Zu Hause darfst du wieder laut sein"
- Rituale für Übergänge
- Klare, liebevolle Erwartungen kommunizieren
4. Selbstregulation CO-regulieren
- Gemeinsam Strategien entwickeln: "Was hilft dir, wenn du so aufgeregt bist?"
- Atemübungen, Körperwahrnehmung spielerisch einüben
- Nicht in intensiven Momenten erziehen, sondern in ruhigen Momenten üben
5. Die eigene Haltung reflektieren
- Welche Gefühle sind bei mir erlaubt, welche nicht?
- Wo ist meine Toleranzgrenze – und ist sie für das Kind entwicklungsförderlich?
- Eigene Kindheitserfahrungen mit Intensität bewusst machen
Zusammenfassung: Was Kinder wirklich brauchen
Die Balance zwischen Authentizität und sozialer Kompetenz
Kinder müssen lernen, ihre Intensität sozialverträglich zu leben – aber nicht, sie zu verstecken oder zu verleugnen.
Die heilsame Botschaft lautet:
- "Deine Gefühle sind richtig und wichtig"
- "Du darfst intensiv sein"
- "Gleichzeitig lernen wir zusammen, wie du damit umgehen kannst"
- "Du bist nicht zu viel – du bist genau richtig"
Persönlichkeitsreifung durch Akzeptanz
Nach Carl Rogers ist die zentrale Bedingung für Persönlichkeitsentwicklung die bedingungslose positive Wertschätzung. Das bedeutet nicht, jedes Verhalten gutzuheißen, aber das Kind in seinem Kern zu akzeptieren.
Reife Persönlichkeit entsteht, wenn:
- Das Kind sein authentisches Selbst entwickeln darf
- Es Selbstregulation durch Ko-Regulation lernt
- Es die Erfahrung macht: "Ich bin liebenswert, auch wenn ich intensiv bin"
- Es lernt, seine Intensität als Kraft zu nutzen, nicht als Problem zu bekämpfen
Ausblick: Intensität als gesellschaftliche Ressource
Viele bedeutende Menschen waren intensive Kinder: Künstler, Erfinder, Aktivisten, Visionäre. Ihre Intensität wurde zur Kraftquelle für Kreativität und Engagement.
Die entscheidende Frage ist nicht: "Wie mache ich mein Kind weniger intensiv?"
Sondern: "Wie begleite ich mein Kind, damit seine Intensität zur Stärke wird?"
Denn die Welt braucht Menschen, die sich begeistern können, die leidenschaftlich sind, die intensiv fühlen und denken. Sie braucht nur auch Menschen, die gelernt haben, diese Kraft zu kanalisieren – nicht zu unterdrücken.
Literatur und Vertiefung
- Gottman, J. (1997). Raising an Emotionally Intelligent Child
- Kuhl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit
- Linehan, M. (1993). Skills Training Manual for Treating Borderline Personality Disorder
- Stern, D. (1985). The Interpersonal World of the Infant
- Thomas, A. & Chess, S. (1977). Temperament and Development
- Winnicott, D. W. (1965). The Maturational Process and the Facilitating Environment
- Hüther, G. (2016). Mit Freude lernen - ein Leben lang
